Sie oder ich?
Dramatischer Kranichkampf mit unerwarteter Wendung - Ein Bericht von Beate Blahy
Auf unserer täglichen Kontrollfahrt entlang der Kranichreviere unseres Beobachtungsgebietes kamen wir heute gerade rechtzeitig, um Augenzeugen eines erbitterten Kampfes zu werden. In etwa 200 Metern Entfernung sahen wir schon bei der Annäherung heftige Bewegung in der Luft, dann auf dem Boden, und hielten an. Es waren vier Kraniche, die sich auseinandersetzten. Zwei von ihnen flogen beiseite, nicht weit, noch in Sichtweite, die beiden Zurückbleibenden aber kämpften miteinander, so ernsthaft, so verbissen, wie wir es nicht oft, aber doch hin und wieder sehen. Es geht dabei immer um große Dinge: um den Partner oder die Partnerin, oder auch um ein begehrtes Brutrevier, und damit also um die Aussicht auf erfolgreiche Nachkommenschaft. Die Kraniche hatten für ihren Zweikampf ein großes Feld, bestanden mit Winterraps, ausgewählt, leicht gewelltes Terrain, dessen Senken und Höhen uns einen der beiden Kraniche, die beiseite geflogen waren, verbarg. Der andere aber stand nur da und schaute zu den Kämpfern hinüber. Wir sahen dem Paarstreit wortlos und gespannt zu, holten kaum Atem, so sehr erregte uns selbst, was wir dort miterlebten. Die beiden Kämpfer sprangen aufeinander zu, immer wieder, verbissen ihre Schnäbel ineinander, zerrten den Kopf des andern hin und her, rissen die Schnäbel wieder auseinander und versuchten, den Gegner in die hochrote, große Kopfplatte zu treffen. Die Flügel benutzten beide so wirksam, wie wir unsere Fäuste in einem Kampf. Dabei sprangen sie fortwährend umeinander herum, einmal sprang einer über den andern hinweg, drehte sich sofort wieder um, hackte auf den Gegner, schlug mit den Krallen, von denen die jeweils innersten messerscharf sind – gedacht für genau solche Situationen. Die Köpfe beider Kraniche zeigten bereits blutige Stellen.
Nach etwa zwei Minuten wurde uns erkennbar, dass einer der beiden der Schwächere war, und auch den Kämpfern wurde bewusst, wer hier Gewinner werden könnte. Der Schwächere ließ nach in der Heftigkeit und Kraft seiner Attacke, er schwankte, wir konnten es trotz der großen Entfernung mithilfe der Ferngläser und des Spektives deutlich erkennen. Er kämpfte sichtbar um Luft zum Atmen, der Schnabel, blutig, stand offen. Dann plötzlich drehte er sich fort, floh flach über den Boden hin, verfolgt vom Überlegenen. Ein paar Meter wurde geflogen, dann gingen beide auf das Feld nieder und liefen, der Verfolger etwas langsamer als der Unterlegene, dann holte der andere wieder auf, holte den Fliehenden ein. Erneut verbissen sich die beiden ineinander, und wir zitterten innerlich: Wie wird es ausgehen? Nicht weit von hier hatte vor zwei Jahren ein ähnlicher Kampf stattgefunden, der dem Verlierer den Tod gebracht hatte. Sollten wir ein solches Drama wieder erleben? Aber einzugreifen kam uns nicht in den Sinn – so sind die Gesetze in der Natur, nur die Besten gewinnen, für Schwäche ist kein Platz.
Noch ehe jedoch dem Unglücklichen die entscheidenden Stöße auf den dünnen Schädelknochen versetzt werden konnten, ereignete sich etwas: Der abseits wartende Kranich flog auf, war in Sekunden auf dem Kampfplatz und stellte sich nur wenige Meter dem Verlierer entgegen, ohne selbst zu attackieren, aber mit eindeutiger Haltung: Stopp! Der lief eilig auf ihn zu und stellte sich neben ihn. Nun sahen wir, dass der Dritte deutlich größer war als der Kranich, dem er in der Not beistand, und auch größer als der Gegner, und nun verstanden wir, was wir gesehen hatten. Es war ein Kampf, den zwei Weibchen miteinander führten! Und das wartende Männchen hatte nun, als es höchstnötig war, seinem Weibchen beigestanden, hatte die Entscheidung zugunsten seiner Verpaarung mit ihr herbeigeführt. Denn die Gegnerin floh. Gegen eine so haltbare Zweierbeziehung hatte sie keine Aussicht auf einen Sieg, selbst wenn er ihr nach dem auch uns erkennbaren Kräfteverhältnis zugestanden hätte.
Kämpfe zwischen Weibchen gibt es durchaus, wenn auch sehr viel seltener als die Rivalenkämpfe zwischen Männchen. Diese jedoch halten, bevor sie derart gewaltsam auf den andern losgehen, erst langwierige ritualisierte Schaukämpfe ab, bei denen jeder seine körperlichen Vorzüge ausführlich zur Schau stellen kann, womit die Chance besteht, schon in dieser unblutigen Phase Sieger und Verlierer zu definieren; wenn der Schwächere, Kleinere erkennt, dass seine Chancen auf einen Sieg, den Gewinn von Weibchen und Revier, gering sind. Er weicht dann zurück, ohne Verletzungen davontragen zu müssen. Am Ende bleibt doch die Frage: Wenn es nur nach den Darwin’schen Gesetzen geht, also „survival of the fittest“, dann hätte doch das Männchen sich für die Stärkere entscheiden müssen! Aber das tat es nicht. Zählt eine womöglich langjährige erfolgreiche Partnerschaft auch unter Kranichen mehr als geringfügige körperliche Unterlegenheit? Ein schöner Gedanke…